Gedichte von Derek Walcott

Übersetzt von Johannes Beilharz

 

Auf den Virgin Islands

Für Bill und Pat Strachan

Die Dünung der Orgel
der anglikanischen Kirche St. Croix in Christianstead
wird von der Stimme des Fallschirmjägers verdrängt: "Nach
Vietnam zur Polizei. Dreißigmal abgesprungen."
Glocken bestrafen die tote Straße, Tauben taumeln,
ihre Schirme öffnend, vom Glockenturm
und drehen sich in Kreisen, bis die Ringe des Läutens aufhören.
"Salud!" Der Fallschirmjäger hebt sein Glas.
Die Gemeinde erhebt sich wie eine Patrouille,
mit schlurfenden Schuhen und Stiefeln,
und wiederholt Befehle, während die Orgel donnert:
"Preiset den Herrn. Der Name des Herrn sei gepriesen."

Jenseits des stillen Hafens kann man die Brecher
nicht an den geschrammten Horizont feuern hören,
noch die Charterflugzeuge, die auf Buck Island
zuschießen. Der einzige Krieg hier ist ein stiller
Krieg zwischen blauem Himmel und Meer,
und eine einzige Stimme, die des marschierenden Chros, erhebt sich,
um mit dem uralten Schrei "Onward, Christian Soldiers"
neue Rekruten für die noch halbleeren, oder, wie Gläser,
halbvollen Kirchenbänke auszuheben.
Eine Möwe hängt, sich am Sims festkrallend,
wie eine Medaille vom tuchblauen Himmel.

Ist das alles: diese Boote, dieses blaue Meer?
Die Dinghis, Katamarane und Rennjachten, die an den
spitzengesäumten Felsen, an denen sie vertäut sind,
der Dünung von "Preiset den Herrn" zunicken?
Wesley und Watts, deren evangelisches Licht
die Minenschächte zu unserem Kirchstuhl hinabstach
mit seinen von Anthrazitstäubchen kiesigen Strahlen,
die auf uns in unseren Bänken zutrieben:
aus Gottes langsam mahlenden Mühlen in Lancashire
Asche auf die in den Sümpfen Flanderns eingegrabenen Toten,
während nun ein graues Nieseln an der Aussicht

auf diesen blauen Hafen vorbeidefiliert, in Fenster
zwischen zwei vom Zügel des Windes hin- und hergerissene
Palmwedel gerahmt, die wie Pferdenacken übereinstimmen
und nickend, langsam wie ein Leichenwagen, einen Schleier
aus Regentroddeln tragen. Während das Wetter, wie in einem Kind,
umschlägt, wird der paradiesische Tag draußen dunkel,
die Jachten flattern wie Motten in einem grauen Glas,
die militärischen Stimmen gehen im Donnern unter, und
auf der anderen Seite des Hafens wirft, wie ein schüchterne
Lockung, der Regen einen siebenfarbigen Bogen.

Der Sonntag ist für heute abend zu Bett gebracht worden.
Altarlichter reiten auf dem schwarzen Glas, wo sich die
Jachten steif wiederholen und mit jeder Kräuselung
phosphoreszieren - die weiten Parkplätze
reicher Gezeiten - und jeder Mast wiegt das Zifferblatt
der Nacht beim Umschwenken seiner Nadel auf der Suche
nach der Station, die wirklich Frieden heißt.
Wie Neonlaser, die über die Bars geschossen werden,
dröhnen die Discos die Musik der Sphären aus, und, einer nach
dem anderen, werden die Sterne von der Wissenschaft infiziert.

(In the Virgins)

 

Wald von Europa

Für Joseph Brodsky

Die letzten Blätter fielen wie Noten von einem Klavier
und hinterließen das Echo ihrer Ovale im Ohr;
der Winterwald mit seinen schlaksigen Notenständern
sieht aus wie ein unbesetztes Orchester mit
auf verstreuten Schneemanuskripten gezogenen Linien.

Der Einlegekupferlorbeer einer Eiche
scheint hell wie Whisky durch die braunen
Glasziegel über deinem Kopf, während der wintrige Atem
der Mandelstamzeilen, die du rezitierst, sich
sichtbar wie Zigarettenrauch entrollt.

"Das Rascheln von Rubelnoten an der zitronenen Newa."
Die Gutturale, zerfallene Blätter, krachen unter deiner
Exilszunge wie Harsch unter Stiefeln;
Mandelstams Zeile kreist mit dem Licht
in einem braunen Raum im öden Oklahoma.

Ein Archipel Gulag liegt
unter diesem Eis, wo das Salz, Mineralquelle
des langen Pfades der Tränen, diese Ebene
berieselt, die, hart und offen wie ein Hirtengesicht,
sonnenspröde mit unrasiertem Schnee verstoppelt ist.

Aus dem Schriftstellerkongreß wächst im Flüsterton
Schnee heraus und kreist wie Kosaken um die Leiche
eines müden Choctaw, bis daraus ein Blizzard
aus Verträgen und weißem Papier wird, während wir
einen Einzelnen einer Sache wegen aus den Augen verlieren.

Jeden Frühling beladen diese Äste wie Bibliotheken
ihre Regale mit neuerschienenen Blättern, bis sie weggeworfen
und einem neuen Zyklus überführt werden - Papier zu Schnee -
und doch überdauert ein Wille am Nullpunkt des Erträglichen
wie diese Eiche mit ein paar unverschämten Blättern.

Als der Zug durch die vergewaltigten Ikonen des Waldes fuhr,
klirrten die Eisfelder wie Rangierbahnhöfe, dann ging es
durch die Nadeln gefrorener Tränen - die Bahnhöfe
kreischten Dampf - und er atmete sie in einem einzigen
Winteratem versteinerter Konsonanten ein.

Er sah die Gedichte verlorener Bahnhöfe
unter Wolken so weit wie Asien, in Gegenden,
die Oklahoma wie eine Traube verschlucken könnten -
nicht dieser baumschattigen Präriehaltestellen - in Räumen
von einer aller Entfernungen spottenden Verlassenheit.

Wer ist dieses dunkle Kind an den Geländern Europas,
das zusieht, wie der Abendfluß die mit Macht und
keinen Dichtern gestempelten Könige prägt, während
die Themse und die Newa mit Banknoten rascheln
und dann auch, schwarz auf gold, die Silhouetten des Hudson?

Von der gefrorenen Newa zum Hudson ergießt sich
unter den Kuppeln der Flugplätze, in den widerhallenden
Bahnhöfen der Fluß der Emigranten, die das Exil
so klassenlos gemacht hat wie gemeiner Schnupfen,
Bürger einer Sprache, die jetzt auch die deine ist,

Und jeden Februar, jeden "allerletzten Herbst",
schreibst du, weit entfernt von den dreschenden Erntearbeitern,
dem Weizenstroh, das sie flechten wie Mädchen ihr Haar,
weit entfernt von Rußlands vom Sonnenstich zitternden
Kanälen, ein Mann in einem Zimmer mit Englisch.

Die Touristeninseln meines Südens sind
auch Gefängnisse, bestechlich, und was sind Gedichte,
auch wenn es kein schlimmeres Gefängnis gibt, als sie
zu schreiben, und falls sie tatsächlich ihr Salz wert sind,
als Sätze, die die Menschen von der Hand in den Mund nehmen?

Von der Hand in den Mund, das Brot, das Jahrhunderte
überdauert, das dauert, wenn Regime gefallen sind,
wenn in seinem Wald aus Stacheldrahtästen
ein Gefangener in Kreisen geht und den einen Satz kaut,
dessen Musik die Blätter überdauern wird,

dessen Dampf der Marmorschweiß
auf Engelsstirnen ist, der niemals trocknen wird
bis Boreas die Pfauenlichter seines
langsamen Fächers von L.A. nach Archangelsk schließt
und das Gedächtnis nichts mehr wiederholen muß.

In göttlichem Fieber, hungrig und erschreckt,
zitterte Mandelstam, und jede Metapher
schüttelte ihn wie ein Schüttelfrost,
jeder Vokal wog schwerer als ein Grenzstein
"zum Rascheln von Rubelnoten an der zitronenen Newa".

Doch nun ist dieses Fieber ein Feuer, dessen Schein
unsere Hände wärmt, Joseph, da wir grunzen wie Primaten,
die in der Winterhöhle einer braunen Hütte
Gutturale austauschen, während draußen im Gestöber
Mastodone ihre Systeme durch den Schnee zwängen.

(Forest of Europe)

Die Originale dieser Gedichte stammen aus The Star-Apple Kingdom, Copyright © Derek Walcott 1977, 1978, 1997. Die Übersetzungen erschienen ursprünglich in Akzente, Heft 6, Dezember 1982. Copyright © 1982 Carl Hanser Verlag, München / Johannes Beilharz.

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