Die stillen Kinder von Petzow

Irgendwo weit oberhalb von Berlin ist der Petzower See. Idyllisch gelegen und im Sommer schön warm, lädt er geradezu zum Baden und zur Erholung ein. An seinen etwas bergigen Ufern schimmern Zelte zwischen den Kiefern hervor, und an den flachen, schön sandigen Badestellen können feste Flachbauten von Betriebsferienlagern und manch einsame, herrlich gelegene Bonzenvilla bewundert werden.

Mehrere Jahre fuhr ich mit dem Kinderferienlager unseres Betriebes als Rettungsschwimmer und Sportleiter mit und war jedesmal aufs Neue begeistert von der überschäumenden Lebensfreude, der Neugier und dem Übermut der Kinder, wenn sie sich fern von häuslicher Enge und elterlicher Strenge zwei Wochen lang voll ausleben konnten.
Sie liebten die Sonne, den Sandstrand und das Baden. Auch die gute Laune der Helfer und Gruppenleiter trug neben deren persönlichem Engagement wesentlich zum Gelingen als Lager der Erfrischung und des Spaßes bei.
Meinen ältesten Sohn, der damals vier Jahre alt war, nahm ich einmal mit. Es wundert sicher niemanden, daß er schon lange vor Schulbeginn schwimmen und vom Steg ins Wasser springen konnte. Ich war mächtig stolz auf ihn.

Einziger Wermutstropfen dieser Ferienaufenthalte für mich war, daß ich meine Augen stets überall haben mußte, damit keine Dummheiten gemacht wurden, die in üblen Folgen ausarten konnten.
So entging es meiner Aufmerksamkeit natürlich nicht, daß jeden Tag, wenn unsere Kinder vormittags im Wasser lärmten oder am Strand im Schatten Mittagsruhe hielten, eine seltsame Kindergruppe am Strandweg vorbeikam.
Unsere Kinder nannten sie die Stillen.
So um die fünfzehn vier bis fünf Jahre alte Kinder zuckelten, von drei Frauen geleitet, regelmäßig vorbei. Dicht aneinandergedrängt tapsten sie am Rand der Straßen entlang, die im Bogen um unsere Badebucht führte.
Krampfhaft hielten sie sich gegenseitig an den Händchen fest und ließen selbst dann nicht los, wenn sie stehenblieben, um unseren ausgelassen tobenden Kindern kurz zuzusehen. Sie sprachen niemals auch nur ein Wort und winkten nicht zurück. Selbst ein Lächeln war auf den kleinen Gesichtern niemals zu entdecken. Sie glichen einer kleinen Horde von ängstlichen, verunsicherten Geistern, die tapsend ankamen, kurz stehenblieben und dann weitertrippelten. Ohne einen Laut, ohne sich umzudrehen. Es waren eben die Stillen.
Sie hatten eine deprimierende Wirkung auf unsere Kinder, die jedesmal deutlich ihre Lautstärke dämpften oder sogar schwiegen, bis die Gruppe vorüber war.
Wir vermuteten schwer geschädigte Kinder, denn von einer der schönen Strandvillen hieß es, sie sei ein Kinderheim. Mich störte nur der hohe Eisenzaun und ein ständiger Pförtner im Häuschen an der Einfahrt. Ein junger, athletischer Kerl im dunklen Anzug. Hatte der nichts besseres zu tun, als sich in diesem Pförtnerhäuschen zu räkeln?

Als ich einmal mit unseren älteren Jungen im Boot am Ufer entlangruderte, baten sie mich, doch am Bootssteg des Kinderheims anzulegen. Sie wollten im flachen Wasser Krebse suchen. Da das Haus in einem Park hinter Bäumen versteckt nur zu erahnen war, gab ich nach, und wir legten an.
Kaum hatten wir jedoch die Leine festgemacht, kamen im Eiltempo zwei Herren in tadellosen Anzügen gelaufen. Einer rief mir schon von weitem zu:
"Sind Sie der Verantwortliche?
Dann befolgen Sie unsere Weisung!
Dies ist ein Grundstück des Ministeriums des Inneren.
Entfernen Sie sich sofort von der Pier.
Sie haben das Anlegeverbot unbedingt zu respektieren.
Haben wir uns verstanden?
Dankeschön!"

Dann verschwanden Sie, genauso eilig, wie sie gekommen waren, wieder im Park. Die drehten sich nicht einmal zur Kontrolle um, ob wir Ihnen tatsächlich gehorchten. Es war sonnenklar - sie waren gewohnt, daß ihre Befehle widerstandslos und sofort befolgt wurden. Das taten wir denn auch. Nur - wie hatten die uns überhaupt sehen können?

Ich fragte später unseren einheimischen Lieferantenfahrer etwas provokant, was denn das für ein komisches Kinderheim sei? Vielleicht für Behinderte oder Stumme?
Er schaute sich vorsichtig um und flüsterte mir zu: "Die sind nicht stumm. Die sind völlig normal. Aber das ist die Brut von politisch Eingesperrten oder von solchen, die in den Westen abgehauen sind. Verstehen Sie jetzt? - Die sollen zur Adoption freigegeben und einmal stramme Kommunisten werden. Aber das ist geheim. Man sagt sogar, die Eltern dürften nicht wissen, daß ihre Kinder hier sind. Als eine Strafe quasi. Aber ich hab nix mit denen zu tun. Quasseln Sie zu niemanden auch nur ein Wort darüber, rate ich Ihnen. Ich hab Ihnen nix gesagt, verstehn Se mir?"
Ich verstand und schwieg.

Nur manchmal, in einer ruhigen Minute, oder immer dann, wenn ich Bilder einer schönen Bucht sehe, die zum Baden einlädt, dann muß ich an die kleinen, bleichen Gesichter der stillen Kinder von Petzow denken.

Copyright © R. Zähler 1999.

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