Rudolf Hermstein
Chandler
verschandelt
oder
Das luftgetriebene Riesenhorn
Ein Engländer, der sich bei Foyles in London einen Kriminalroman gekauft hatte, merkte erst zu Hause, daß das Buch einen unbedruckten Bogen, also acht leere Seiten enthielt. Er schickte das Mängelexemplar zurück und begründete sein Umtauschbegehren mit der Bemerkung, es handle sich zwar nur um einen kleinen Schönheitsfehler, "but you'll have to admit that it spoils the reading".
Krimi-Fan ist auch Lancelot Lamar, der Titelheld eines Romans von Walker Percy. Er sagt von sich, eine Zeitlang sei ihm das Leben nur noch erträglich gewesen, wenn er eine Flasche Bourbon in Reichweite einen Roman von Raymond Chandler gelesen habe, und sei es zum vierten oder fünften Mal.
Sollte hierzulande jemand auf die Idee kommen, seinen Trübsinn nach dem Rezept "Chandler plus Bourbon" zu bekämpfen, und ausgerechnet an Chandlers The Lady in the Lake (Die Tote im See) in der Übersetzung des Kritikers, Spiegel-Redakteurs und Nebenbei-Übersetzers Hellmuth Karasek geraten, ist ihm zu wünschen, daß wenigstens der Whisky was taugt.
Die kleinen Schönheitsfehler dieser Übersetzung sind zwar, jeder für sich genommen, noch geringfügiger als der Reklamationsgrund unseres Engländers, dafür aber so zahlreich und oft so dicht gesät, daß man für den einen oder anderen unbedruckten Bogen eher dankbar wäre.
Auffällig ist Karaseks Abneigung, Sachen, die er nicht weiß und er weiß vieles nicht , nachzuschlagen oder gar nachzulesen. So macht er aus der Blaupause einer Landkarte [blue print map] eine "blaugedruckte Karte" (S. 55), aus dem kriminalistisch bedeutsamen Zungenbein [hyoid bone] einen "Halswirbelknochen" (S. 76), aus einem Volant [flounce] eine "Borte" (S. 91), aus Puderzucker [confectioner's sugar] "Einmachzucker" (S. 91), aus Maisstärke [corn starch] "Maispulver" (S. 91), aus einem Jabot, also einer Spitzenrüsche [a ruffled jabot at her throat], "ein gefälteltes, am Hals geschlossenes Jäckchen" (S. 133) und aus einer Pistole einen Revolver.
Die Waffe, mit der Lavery erschossen wurde, gehört einer Frau, und Frauen arbeiten nur ungern mit Revolvern, weil die Dinger in der Handtasche so auftragen. Außerdem nimmt Marlowe einmal das Magazin heraus, und Karasek übersetzt an einer Stelle auch richtig "eine kleine Automatic". Im übrigen hält er aber am "Revolver" fest (S. 125 ff.), obwohl es sich eindeutig um eine Pistole handelt. Das Dumme ist halt, daß beide Typen von Schießeisen im Englischen oft einfach als "gun" bezeichnet werden.
Überhaupt ist es amüsant zu beobachten, wie Chandler und seine Sprache ihren Schabernack mit dem Übersetzer treiben und ihm immer wieder mal eins auswischen. So macht Marlowe bei der Durchsuchung eines Wochenendhauses (S. 91) eine interessante Entdeckung. In einer Ecke findet er "einen augenscheinlich neuen, pfirsichfarbenen, mit Spitzen besetzten Seidenschlüpfer". Im Original steht aber "slip", und ein "slip" ist im Englischen kein "Slip", sondern ein Unterrock. (Es ist aber auch unfair: Endlich mal ein Wort, bei dem nichts schiefgehen kann, weil wir es aus dem Englischen übernommen haben, und dann bedeutet es bei denen was ganz anderes!)
Nun sind die meisten dieser Schnitzer noch relativ harmlos: Sie fallen einem, von dem falschen Revolver einmal abgesehen, nur beim Vergleich mit dem Original auf. Das eigentliche Ärgernis dieser "vollständigen Neuübersetzung" sind die vielen Hundert Stellen, an denen ein auch nur halbwegs aufmerksamer, des Deutschen mächtiger Leser stolpern wird über unbeholfenes, schlechtes, falsches Deutsch, über Stilblüten und unfreiwillige Komik, über Sinnwidriges oder schlicht Unverständliches.
Eigentlich würde es bei vielen der folgenden Beispiele genügen, die Übersetzung für sich sprechen zu lassen, also jeweils nur die deutsche Fassung zu zitieren: Um zu merken, daß ein drittklassiges Provinzorchester schlecht spielt, braucht man ja auch nicht die Partitur mitzulesen. Der Ordnung halber und all denen zuliebe, die es für möglich halten, daß die Patzer vielleicht doch in der Partitur stehen zitiere ich trotzdem in jedem Fall auch das Original.
Wenn ein Übersetzer beim Lesen des Originals ein Wort oder eine Wendung falsch versteht, wird er im allgemeinen wie jeder Leser durch den Zusammenhang eines Besseren belehrt. Bei Karasek versagt dieser Korrekturmechanismus erstaunlich oft. Er hält dann hartnäckig an seiner falschen Interpretation fest, auch wenn der Sinnzusammenhang offensichtlich gestört ist.
Auf Seite 7 sitzt Marlowe im Empfangsraum der Gillerlain Company; ein Mr. Kingsley hat ihn bestellt und läßt ihn warten. Zitat Karasek: "Ich sah mir den Raum genauer an. Seine Aufmachung sagte mir nichts. Möglich, daß hier Millionen gescheffelt wurden oder auch, daß der Gerichtsvollzieher im Hinterzimmer saß, seinen Stuhl vor dem Geldschrank." [I looked the place over. You can't tell anything about an outfit like that. They might be making millions, and they might have the sheriff in the back room, with his chair tilted against the safe.] Der hervorgehobene Satz ist unsinnig. Richtig übersetzt könnte er lauten: "Bei so einem Laden weiß man nie." "Outfit" ist ein sehr geläufiges umgangssprachliches Wort für "Laden" im Sinne von "Firma, Geschäft" (und bedeutet nie "Aufmachung" im Sinne von "Einrichtung").
Kingsley zeigt sich (S. 8). Karasek läßt Marlowe sagen: "Sein Benehmen drückte aus, daß er hart genug sei, um in dieser Welt zurechtzukommen." Im Original macht Kingsley durch sein Auftreten klar, daß mit ihm nicht gut Kirschen essen/nicht zu spaßen/nicht leicht auszukommen ist. [His manner said he was very tough to get along with.]
Ein paar Zeilen weiter (S. 9) überreicht Marlowe seine Visitenkarte: "Er klemmte sie zwischen seine Pranken und starrte sie finster an." [He clamped it in his paw and scowled down at it.]
Kingsley
bittet Marlowe in sein Büro (S. 10). Zitat Karasek: "An der
Wand hing die gewaltige, kolorierte Fotografie eines älteren
Kompagnons [. . .] Auf einem Schild unter dem Bild stand:
,Mr. Matthew Gillerlain, 1860-1934.'" [On the wall there was
a huge tinted photograph of an elderly party...] Wenn in
einem Chefbüro der Gillerlain Company ein pompöses Porträt
eines Verstorbenen namens Gillerlain hängt, wird es sich wohl
kaum um einen "Kompagnon" handeln. Karasek verwechselt
"elderly party" (etwa: "alter Knabe")
mit "elderly partner".
Marlowe soll Kingsleys Frau suchen, die schon seit Jahren ihre eigenen Wege gegangen und nun seit einigen Wochen verschwunden ist. Kingsley zeigt Marlowe ein Foto, auf dem seine Frau mit ihrem letzten Liebhaber (Lavery) zu sehen ist, und berichtet einen ganzen Absatz lang, was seine Frau in letzter Zeit so getrieben hat. Dann sagt er, Zitat Karasek (S. 14): "Aber das Foto sieht einigermaßen überzeugend aus, finden Sie nicht?" [But the picture looked all right so far, you understand?"] Karasek verwechselt hier das abstrakte "picture" mit einem konkreten Foto und wird auch durch "looked" und "you understand" nicht auf seinen Irrtum aufmerksam, sondern übersetzt beides ebenfalls falsch. Richtig übersetzt könnte der Satz lauten: "Aber bis dahin bestand noch kein Anlaß zur Sorge, verstehen Sie?" Oder, wörtlicher: "Aber bis dahin sah alles noch ganz harmlos aus..."
Mrs. Kingsley hat ihrem Mann telegraphisch angekündigt, sie werde sich in Mexiko scheiden lassen und Lavery heiraten. Dieser ist aber in der Stadt. Marlowe fragt ihn, wie er sich das Telegramm erkläre. Zitat Karasek (S. 25): "Ich hab Schluß gemacht", sagte er langsam. "Vielleicht hat sie gehofft, sie kriegt mich auf diese Weise zurück. "["I stood her up," he said slowly. "It might be her idea of a way to get back at me".] Also: Lavery vermutet in dem Telegramm einen Racheakt. Karasek liest "to get back at me" (sich an mir rächen) als "to get me back".
Bei diesen Beispielen von den ersten 25 Seiten handelt es sich um sinnentstellende Fehler auf Grund falscher Interpretation des Originals. Die folgenden Zitate (eine Auswahl aus Hundert ähnlicher Stilblüten) sind typisch für den Umgang des Übersetzers Karasek mit der deutschen Sprache:
S. 26: "Sie stehlen mir nur meine Zeit. Und Ihre auch..." [You are wasting my time and your own..."]
S. 30: (Marlowe beobachtete durchs Fenster, wie Dr. Almore mit einer brennenden Zigarette in der Hand etwas im Telefonbuch sucht.) "Er fand, was ersuchte, vertiefte sich in das Buch, und hastige Rauchwolken stiegen aus den Seiten in die Luft. [He found his place in the book, leaned down over it and quick puffs of smoke appeared in the air over the pages.]
S. 90: Dann hörte ich weit entfernt einen Motor anspringen und lauter werden, und der weiße Strahl seiner Schemwerfer fuhr unter mit auf der Straße vorbei. [Then far off I heard a car motor start up and grow louder and the white beam of headlights passed below me on the road.]
S. 92: (Marlowe durchsucht nachts ein Haus. Er hört draußen Schritte, knipst die Taschenlampe aus und schleicht zur Tür). Ich zog die Tür weit auf und leuchtete mit der Taschenlampe unvermittelt hinaus. Sie verwandelten ein Augenpaar in goldene Laternen. Dann hörte man einen Sprung und dumpfes Trommeln von Hufen, die zwischen den Bäumen verhallten. Es war nur ein spionierendes Reh gewesen. [I yanked the door wide and stabbed out with the flash. It made golden lamps of a pair of eyes. There was a leaping movement and a quick thudding of hoofs back among the trees. It was only an inquisitive deer.]
Seite 120: (Lavery ist erschossen worden, als er gerade duschen wollte, und Marlowe stellt sich vor, wie der Mord geschehen ist.) Aber wenn man sich zu den Duschhähnen bei geschlossenem Vorhang vorbeugt, hat man kein gutes Gleichgewicht. Außerdem ist man höchstwahrscheinlich vor Schrecken starr, wenn man auch sonst nicht anders reagiert als alle anderen. [But leaning in over the shower faucets, holding the curtains closed, you are off balance. Also you are apt to be somewhat petrified with panic, if you are at all like other people.]
S. 134: (Die Rede ist von Kingsleys Sekretärin.) Sie sah etwas weniger kühl als gestern aus, aber noch lange nicht wie eine lodernde Prärie. [She looked a little warmer, but still no prairie fire.]
S. 246: Ich wußte, daß er seinen Kopf bewegt hatte und daß seine Augen auf mir froren. [I knew his head moved and his eyes froze on me.]
Daß bei solcher Übersetzerei Witze und Wortspiele nur eine geringe Überlebenschance haben, versteht sich von selbst. Ich will nur ein Beispiel anführen.
Kingsley und Marlowe überlegen, warum Lavery abstreitet, noch kurz zuvor mit Kingsleys Frau in El Paso gewesen zu sein (S. 15). Marlowe hat eine Theorie: "She might have tossed him out on his can", I said. "That would have hurt him in his deep place his Casanova complex." Karasek übersetzt: "Vielleicht hat sie ihn eingetauscht", sagte ich. "Das hätte seine empfindlichste Stelle erwischt seinen Casanova-Stolz."
Die Pointe ("can" ist ein Slang-Wort für "Hintern") ist mausetot. Dabei wäre sie ganz leicht zu retten gewesen. Man könnte beispielsweise übersetzen: "Vielleicht hat sie ihm einen Tritt verpaßt", sagte ich. "Damit hätte sie seine empfindlichste Stelle getroffen seinen Casanova-Komplex."
Für die unterschlagenen Chandler-Pointen entschädigt uns Karasek wie wir schon gesehen haben reichlich durch unfreiwillige Komik. Auch dafür noch ein Beispiel (S. 61). Sheriff Patton und noch ein paar Männer stehen um die Tote herum, die vier Wochen im Wasser gelegen hat. Man fachsimpelt, ob sie ertrunken ist oder ermordet und anschließend im See versenkt wurde. Patton ist skeptisch: "Looks drowned all right", he admitted. "But you can't always tell." Also: "Zugegeben, es sieht so aus, als wär' sie ertrunken, aber..." Karasek übersetzt: "Sieht richtig ertrunken aus."
Er
hat hier offensichtlich das Original nur halb verstanden. Es
kommt aber auch vor, daß er nur noch Bahnhof versteht, und dann
greift er schon mal zur freien Nachdichtung, d.h. er phantasiert
einfach drauflos. Dafür zwei Beispiele, beides Prachtexemplare.
Während der nicht sehr harmonisch verlaufenden Unterredung
zwischen Marlowe und Lavery spuckt dieser (ein geschniegelter
Frauenheld) plötzlich auf seinen eigenen Teppich (S. 27).
Marlowes Reaktion: "It was like watching the veneer peel off
and leave a tough kid in an alley." Also, mal ins unreine
übersetzt: "Man konnte förmlich sehen, wie der Lack
abblätterte und der miese kleine Streuner zum Vorschein
kam." Karasek dichtet: "Es war, als ob man eine
Schlange beim Häuten beobachtet, während sie etwas
Zähflüssiges hinter sich zurückläßt."
Ein besonders skurilles Phantasieprodukt des Übersetzers findet
sich auf Seite 59, wo Pattons Dienstwagen beschrieben wird. Auf
dem Dach des ramponierten Gefährts ist unter anderem ein
"new air-raid horn" angebracht (Sirenen haben
amerikanische Polizeiautos ja ohnehin). Auf deutsch müßte man
wahrscheinlich "Luftschutzhorn" sagen. "Neu"
ist dieses Horn deshalb, weil (der Roman spielt Anfang der
vierziger Jahre, kurz nach dem Kriegseintritt der Vereinigten
Staaten) die Luftschutzbestimmungen erst kurz zuvor erlassen
wurden. Karasek weiß offenbar nicht, was eine
"air-raid" ist (nämlich ein Luftangriff), und schlägt
auch nicht nach, sondern erfindet "ein neues luftgetriebenes
Riesenhorn" was immer man sich darunter vorzustellen hat.
Wir wissen alle, wie schnell beim Übersetzen ein Fehler passiert ist. Man versteht etwas falsch, achtet auf das eine und übersieht das andere oder hat einfach mal Mattscheibe. Also: Fehler macht jeder. Nur... "Nobody's perfect, but some people are less perfect than others."
Ich will damit sagen: Es gibt Fehler, die einem einigermaßen versierten Übersetzer einfach nicht passieren. Im Spiegel wurde zum Beispiel mal "Are you kidding?" (also: "Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?) mit "Sind Sie kindisch?" übersetzt. Wenn einer so was macht, weiß man gleich, der hat keine Ahnung.
Karasek steht einmal vor dem Problem, die drei Worte "You darn fool!" zu übersetzen. "Darn" bedeutet "nähen, flicken". Außerdem und das weiß auch bei uns fast jedes "Kid" wird es euphemistisch gebraucht, als Ersatz für "damn" (verdammt, verflucht). Mit dem Nähkästchen hat dieses "darn" ungefähr so viel zu tun wie ein Sack Zement mit einem Sakrament. (In Bayern weicht man bekanntlich bauernschlau auf "Sacklzement" aus, wenn man fluchen will, ohne hinterher beichten zu müssen.) Karasek ahnt nichts vom Doppelleben des Wörtchens "darn" und übersetzt:
"Sie zusammengeflickter Narr!" Ich bin nicht kindisch!
Diese Übersetzung sie ist 1976 bei Diogenes erschienen ist aus mindestens drei Gründen abzulehnen. Erstens wird Chandler bis zur Unkenntlichkeit verschandelt. Zweitens wird der deutsche Leser für dumm verkauft: Man dreht ihm eine Übersetzung an, die gar keine ist und jubelt ihm ein jämmerliches Kauderwelsch als Deutsch unter. Und drittens werden die Amerikaner verunglimpft. Denn was soll man von einem Land halten, wo ein ruppiger Bulle einen erwachsenen Mann mit "mein Süßer" anredet (S. 33), wo Rehe zum Spionieren abgerichtet werden, wo man beide Hände braucht, um eine Visitenkarte entgegenzunehmen, und wo die Leute Forellen als "alte Hurensöhne" (S. 52) und sich gegenseitig als "zusammengeflickte Narren" beschimpfen? Genau: "Die spinnen, die Amerikaner!"
Daß die Übersetzung so ist, hat der Übersetzer zu verantworten. Daß sie erschienen ist, geht aufs Konto des Diogenes Verlags, und dieser muß sich sagen lassen: Es ist unanständig, solchen Schrott als Literatur unter die Leute zu bringen. Dieser Roman er ist einer von Chandlers besten muß noch einmal neu übersetzt werden, aber diesmal bitte ins Deutsche.
Dieser Artikel
erschien ursprünglich in Der Übersetzer, 22. Jahrgang,
Nr. 1/2.