Quickshot - Schnellschuss vom 31.10.2001 Quickshot-Index
Dai Sijie »Balzac und die kleine chinesische Schneiderin«

Dieses Buch des chinesischen, seit 1984 in Frankreich lebenden Filmemachers und Schriftstellers Dai Sijie wurde auf Französisch geschrieben und unter dem Titel »Balzac et la petite tailleuse chinoise« in Frankreich ein Beststeller, der von der französischen Presse unter anderem als schönste Liebesgeschichte des Jahres gefeiert wurde. Auch in Deutschland läuft das 2001 bei Piper in Übersetzung von Giò Waeckerlin Induni erschienene Buch gut; es hat bereits die vierte Auflage erreicht.

Was mich dazu bewog, das Buch zu kaufen, waren allerdings weniger die vollmundigen Superlative der französischen Presse (auf so was reagiere ich allergisch) als die im Roman behandelte Epoche der 1967 von Mao eingeleiteten Kulturrevolution, während der junge Intellektuelle unter revolutionäre Bauern aufs Land geschickt wurden. Die authentische (der Autor hat selbst von 1971 bis 1974 eine solche kulturelle Umerziehung mitgemacht) und anekdotische Schilderung dieses düsteren Kapitels in der Geschichte Chinas anhand des Schicksals zweier Gymnasiasten, die es in ein primitives Bauerndorf der fernen Provinz Sichuan verschlägt, ist eindeutig die Stärke des Buches. Hier zeigt es sich als ein Schelmenroman, dessen mit trockenem Humor erzählte Geschichten die doktrinär-vernagelte Absurdität, die Ungerechtigkeit und Tragik dieser Zeit enthüllen. Ein mit List geklauter Koffer verbotener französischer Bücher von Balzac, Dumas, Flaubert und Romain Rolland erweitert den Horizont der beiden Protagonisten und weckt in ihnen im kommunistischen China verbotene Wünsche nach Freiheit und persönlicher Entfaltung.

Im letzten Drittel etwa, das sich mehr auf die Liebesgeschichte konzentriert und in dem spürbar gerafft wird, geht dem Roman der Atem aus. Die kleine Schneiderin, mit der einer der beiden eine Liebesbeziehung hat und in die auch der andere sich schließlich verliebt, erwacht nie so ganz zum Leben. So dass das durch französische Literatur aus dem 19. Jahrhundert verursachte, ziemlich abrupte emanzipatorische Ende der Liebesgeschichte samt dem rätselhaften letzten Satz »Sie hat gesagt, sie habe dank Balzac etwas begriffen: dass die Schönheit der Frau ein unbezahlbarer Schatz ist« weder psychologisch nachvollziehbar war noch mich sonderlich berührte.

»»» Fazit: Ein interessantes und unterhaltsames, wenn auch nicht in jeder Hinsicht gelungenes Buch, das zu lesen sich lohnt.

Der Roman ist im Buchhandel und Online-Buchhandel erhältlich, z.B. bei Amazon