Quickshot - Schnellschuss vom 07.08.2004 | Quickshot-Index

Zum Tod von Rudolf Stirn

Gestern nahmen am stillen Rande von Cottenweiler an einem glühend heißen Sommertag Familie, Freunde, Kollegen und Autoren Abschied von Rudolf Stirn, der am 30. Juli nach kurzer, schwerer Krankheit verstorben war.

Uns Autoren war er aufgeschlossener Leser, kritischer Lektor und idealistischer Verleger gewesen – ein Mann, der mit Offenheit und Neugier Manuskripte auch Unbekannter entgegennahm und sie, wenn sie ihn überzeugten, ohne Rücksicht auf wirtschaftliche Gesichtspunkte im Alkyon Verlag veröffentlichte. In dem 1986 in Weissach im Tal gegründeten »Kleinverlag« erschienen bis 2004 mehr als 200 Bücher, von denen die allermeisten selbst heute noch lieferbar sind. Auch hierin unterschied sich die verlegerische Philosophie Rudolf Stirns von der heute allgemein gängigen Praxis der Großverlage, deren Publikationen bei Nichterreichen der  festgelegten Umsatzziele nach 1 bis 2 Jahren gnadenlos verramscht werden.

Zu den bekanntesten Autoren des Verlages zählen Wjatscheslaw Kuprijanow (an dessen Übersetzung ins Deutsche Rudolf Stirn teilweise mitwirkte), Johannes Poethen, Lotte Betke, Irmela Brender, Imre Török und Christoph Lippelt.

Die formelle und thematische Vielfalt der Werke Rudolf Stirns ist direkte und indirekte Reflektion literarischer Vorbilder und Ziehväter sowie philosophischer, politischer und religionswissenschaftlicher Belange, die ihn stets beschäftigten. Er kann als einfallsreicher, vielseitiger Autor mit leicht erkennbarer Freude am literarischen Spiel und Experiment gelten, dem bisher die verdiente Würdigung und Bekanntheit weithin versagt blieb. Im Folgenden werden einige Bücher Stirns kurz umrissen und charakterisiert.

Der unter dem Pseudonym Eduardo Lombron del Valle veröffentlichte Roman Die Stadt und die Schreie von 1987 verarbeitet lateinamerikanische Einflüsse; die Kargheit und Knappheit dieses Werkes gemahnen jedoch eher an den Mexikaner Juan Rulfo (Pedro Páramo, 1955) als an den Peruaner Mario Vargas Llosa, auf dessen Die Stadt und die Hunde der Titel anzuspielen scheint.

Von Mörike inspiriert und ins Backnang des 20. Jahrhunderts transponiert ist Stirns amüsantes Das Backnanger Hutzelmännchen nebst der wahren und unblutigen Historie von der argen Sau (1988).

Faustomachie. Faust I / Faustopheles und Antiphist (1992-1999), eine Nachdichtung von Faust I und II im Versmaß des Originals, entstand aus der intensiven Auseinandersetzung des Autors und Germanisten Stirn mit Goethes Ideendrama. (Stirns Hinweise zur Handlung finden sich hier.)

Die kurzen Romane Wie ein Licht aufzuckt. Ein Josef-K.-Roman (1993) und Anton Brucker wird Landvermesser (1995) sind prägnant geschriebene geistreiche Spielereien mit kafkaschem Vorbild.

Der goldne Tropf. Erzählung aus Backpfeif (2001) ist eine ins 20. Jahrhundert und seine Umweltproblematik verlegte satirische Abwandlung des E.T.A. Hoffmannschen Märchens vom goldenen Topf.

Auslöser für die vier philosophischen Dialogwerke von Wenn der Friede stirbt (2002) war der drohende erneute Golfkrieg.

Die Matthäus-Botschaft (2002) und Die Johannes- Botschaft (2003) sind Nachdichtungen der beiden Evangelien in Versform.

Im Frühjahr 2004 erschien mit Ein Telefongespräch mit Mapulski ein Band mit kurzer und kürzester Prosa aus vielen Jahren. Eine zweite Folge dieser Texte aus dem Geschichtenkabinett konnte Rudolf Stirn im Sommer 2004 noch kurz vor seinem Tod unter dem Titel Erdachsenflimmern veröffentlichen.

Für einen Schriftsteller, der, wie er einmal sagte, nur unregelmäßig, dann aber wie besessen schrieb, hat Rudolf Stirn ein umfangreiches Werk hinterlassen. Sein allzu früher Tod hat verhindert, dass die literarische Landschaft Deutschlands um weitere Kabinettstücke aus seiner eigenwilligen Feder bereichert wird.

Johannes Beilharz
Das Werk von Rudolf Stirn ist im Buchhandel und Online-Buchhandel (z.B. Amazon) erhältlich.
Hommage an Rudolf Stirn mit Beiträgen verschiedener Autoren

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