Die gottlosen Ameisen

   I

   Albert hatte es nicht ganz durch das Gymnasium geschafft; das war nicht sein Fehler; er konnte eindeutig beweisen, wie sehr er von einigen böswilligen Lehrern hereingelegt worden war. Doch litt er zutiefst unter dem Mitleid, das ihm diese Unvollendung einbrachte, hatte er einmal seine Geschichte erzählt.
   Albert war kein Adonis. In seinen dreiunddreißig Jahren hatte er sich ein rundes Bäuchlein angegessen, das ihm aber wegen seines runden Gesichts und ständig getragenen wohlwollenden Lächelns nicht übel stand. Er war trotz seines Erfolgs als Geschäftsmann immer noch unbeweibt.
   Eines Tages ging er wegen einer Lappalie zur Polizei. "Und Sie wollen uns totsächlich weismachen, daß Ihr Namme mit nur einem n geschrieben wird?" Die Sekretärin schüttelte geringschätzig den Kopf. "Wofir halten Sie uns denn, Herr 'Thiemans' mit einem n?" So kam es zum ersten Mal in Alberts Leben zu einem Konflikt mit den Autoritäten. Wegen einer dummen Gans von inquisitiver Sekretärin.
   Er war an diesem Abend zum Essen bei seinen Eltern eingeladen und erzählte ihnen von dem Zwischenfall. Der Vater legte die Gabel weg, stand auf und legte Albert den Arm um die Schulter. "Man derf sie durch sulche Sachen nit ausm Konzept bringen lossn", sagte er, "und des gilt auch fir Tich, mei Sonn." Mit solcher Würde hatte er lang nicht gesprochen.
   Albert ging denn auch wieder innerlich aufgerichtet nach Hause, wo ihn das Hündlein Albert freudig begrüßte. "Tu bist auch mei Freund", sagte Albert und streichelte dem Tiere gerührt das Fell. Er schämte sich nicht einmal der Tränen, denn es war niemand zugegen. "Tu bist halt immer do, wann ich die brauch." Und mangels anderer Bettgenossen ging Albert mit dem Hündlein zu Bett.

   In der Nacht hatte er einen Traum, der ihm sehr bedeutungsvoll vorkam. Er ging eine Straße entlang; links und rechts war sie von Häusern gereiht. Auf einmal hörten die Häuser links auf. Er wußte jetzt, daß eigentlich die ganze Zeit über links keine Häuser gewesen waren. Da lag nur ein Nebel, und der Nebel lag auf einem grauen Fluß, dessen Wellen mit einem gefräßigen Schwappen an das Ufer lappten. Er spürte etwas an seinen Beinen entlangstreichen und dachte, das müsse der Hund Albert sein, doch sah er trotzdem hinab, und da war ein Wesen, das lang und niedrig war und eine Haut wie aus dunkelgrauem Gummi hatte, die vor Wasser triefte. Er wollte aufschreien, doch versagte ihm die Stimme. Der Druck des verhinderten Schreis sammelte sich in seinem Hals und Kopf, und er dachte, er werde wohl bald platzen müssen. Im letzten Moment wachte er auf.

   II

   Mit einem schweren Kopf ging Albert am nächsten Morgen ins Büro; der gräßlige Traum wollte ihn nicht aus den Klauen lassen. Wann immer Albert an die großen, scharfen Klauen des langen, niedrigen Wesens dachte, liefen ihm kalte Schauer über den Rücken hinab. Er erzählte auch gleich Toni, der Sekretärin, von diesem Traum und fragte sie nach ihrer Meinung. "Tjo", sagte Toni, "man traimt halt ooft von sulche Sachn, Herr Thiem." (Sie sprach seinen Nachnamen nie zu Ende.) "Glaubst Tu denn nit, daß sowas was bedeit?" fragte Albert, eitel mit dem Bleistift spielend und dabei Toni von unten links anschauend. Er hatte gefunden, daß dieser Blick seine Kunden stets wegen seiner bedingungslosen Offenheit zu gleicher Offenheit bewegte.
   "Ich bin heit geschäftlich hier, Herr Thiem, mit Verlaub", sagte die übellaunige Sekretärin, "ich kann sulche Sachn nit dischkutiern." Albert rückte in sein Privätbüro ab, hart an Tonis Worten würgend. Er hatte einmal versucht, seine Hand auf ihrer linken Hinterbacke ruhen zu lassen, dabei beiläufig über irgendwas Geschäftliches plaudernd, doch es war ihm übel bekommen. Toni wollte nie mit der Sprache raus: war sie verheiratet, lebte sie mit jemand zusammen, oder wollte sie nur nichts von ihm?
   "Tschau, Effi", rief er seinen Freund Theo Effinger an, der in der Türmerstraße ein Sportwarengeschäft hatte, "kennte mir heit abend einen heben? No?" "Dut mir leid, Albert, aber ich bin scho mit sowem verabredet." "Ich glaub, ich kenn die 'sowem', mit der du heit abend verabredet bist. Isses die Anni?" So redeten sie fünf Minuten lang über die Vorzüge der ehrsamen Anita Wendelmaier, deren langem Haar, strammem Busen und feurigem Auge Albert insgeheim verfallen war, wenngleich sie ihn nie zu bemerken schien.
   In den Worten seiner Mutter hatte der Pub Prubläme mit dem schennen Geschlecht. Das kam von der tiefen Tragödie seiner Jugendliebe Theresia Rukowicky. "Daß des Reserl sie zwegen mir das Lebben genummen hat, das hat mir mei Lebben geraubt", hatte Albert der Mutter in einer deprimierten Stunde anvertraut. Der Freitod der Freundin hatte ihn tatsächlich seiner Mutter nach langer Zeit wieder nahegebracht. "Aber ich bin mir immer noch nit gwieß, ob es auch ein Selbstmurd war, oder nit ein Murd." Die Mutter tröstete ihn wie eine Glucke. "Mach Dir keine Vorwirf, Albertle", sagte sie nur, ihm übers schütterwerdende Haar streichend, "das Reserl ist sicher im Schoß der Mutter Gottes."

   Das nun glaubte Albert nicht, oder nicht mehr, denn mit dem Tode Theresens hatte er Gott verworfen. Er hatte nur noch einen Beweis gebraucht, daß Gott nicht existierte, und das war er gewesen.
   Die Beobachtung der Ameisen auf seinen langen, einsamen Sonntagsspaziergängen hatte Albert zuerst atheistische Gedanken eingehaucht. Da huschen sie dohin, die Amuasen, und niemand weiß wieso. Sie wissen nit einmal, daß sie Amuasen sind. So trieb er seinen knotigen Spazierstock tief in einen Ameisenhaufen ein, um den Amuasen Gott zu geben, um innen die Illusiong der Gottheit zu geben.
   In jenen Tagen der Verwirrung und Verirrung war Effi ihm eine große Hilfe und Stütze gewesen. Er glaubte an Albert, auch wenn dieser nur mehr in Mysterien redete. "Die Amuasen haben keinen Gott"; damit leitete er gern lange, deprimierte Monologe ein, und fuhr dann mit etwas fort wie "und ich kann die Verantwordung einfach nit übernemmen, daß sie ihren Gott finden. Und weil die Theresia an einen Gott geglaubt hat, hat sie sich das Lebben genummen. Und dafür kann ich die Verantwordung übernemmen, auch wenn ich mei Lebben dariber zubringen muß. Geh, Effi, steig Du wieder de Weiber noch, wie immer. ... Gottlos."

Copyright © J. Beilharz 1984/1999

Zurück zum Kurzgeschichten-Index